12

 

Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Grund des Sees wieder aufgetaucht war, aber plötzlich sah ich mich im Licht des Silbermonds den Ausbrechern – Greisen wie Artgenossen — hinterhertrotten. Meine Verfassung entsprach einem restlos leeren Gefäß, das noch vor kurzem randvoll mit einer quirligen Flüssigkeit gefüllt gewesen war. Jetzt wußte ich, was es hieß, ein Zombie zu sein, bar jeder Substanz, ohne einen Willen und ohne eine irgendwie geartete Vorstellung von der Zukunft. Anders ausgedrückt, ich war nicht mehr derselbe. Aber was hatte diese Leere bloß verursacht? Ich erinnerte mich nur nebulös daran, was sich am Grunde des Sees abgespielt hatte. Bizarre Bilder, die durch einen Schredder gejagt worden schienen, flogen mir durch den Schädel, ohne daß sie einen Sinn ergaben. Und wie war es mir danach möglich gewesen, den Anschluß an diese wunderliche Prozession zu finden? Fragen, die zu beantworten mein erschöpftes Hirn nicht mehr in der Lage war.

Allmählich gewann die Umgebung um mich herum an Kontur, was schon mal ein gutes Zeichen war. Leise spürte ich, wie Aufnahmefähigkeit und Kraft wieder in mich hineinströmten, wenn auch auf Sparflamme. Ich stellte überrascht fest, daß wir uns inzwischen nicht einmal mehr in der Nähe des Sees aufhielten, sondern auf einem verwucherten Terrain. Die schier grenzenlos scheinende, höckerige Landschaft mit vereinzelten Gestrüppkolonien und ineinandergewachsenen, krüppeligen Bäumen kam mir bekannt vor. Weit und breit weder Menschen- noch Tierseele zu sehen, außer natürlich die eigenartig schweigsame Truppe vor mir. Die führte Refizul an – glaubte ich jedenfalls. Doch instinktiv erfaßte ich, daß mit den Wanderern etwas nicht stimmte. Die Nachthemdenträger schienen irgendwie stark gebückt zu gehen, sie schlurften eher, und bei einigen von ihnen vermeinte ich sogar den Ansatz eines Buckels zu erkennen. Solch inflationäre Rückgratverkrümmungen waren mir in der Anstalt gar nicht aufgefallen. Was meine Artgenossen anging, so nahm ich ebenfalls eine Veränderung wahr, allerdings in ihrem Verhalten. Hatten sie sich vor der Flucht als muntere und ziemlich lautstarke Unterstützer der Patienten gegeben, so machten sie auf einmal einen verängstigten Eindruck, geradeso, als nähmen sie nur deshalb kein Reißaus, weil sie nicht wußten, wohin sie fliehen sollten. Kurzum, alle und alles schien unter dem Einfluß des Vollmondes zu stehen.

Plötzlich wurde es hell. Nein, nicht plötzlich, das Licht wurde ganz langsam immer stärker. Und zwar in einem unmittelbar vor uns befindlichen Gebäude. Und als der Lichtschein uns schließlich aus zerbrochenen Fenstern entgegenstrahlte, wußte ich endlich, wo wir gelandet waren, nämlich genau bei der heruntergekommenen Villa. Geräusche drangen daraus ins Freie, eine seltsame Kombination aus einer kehlig hervorgestoßenen Sprache, urtümlicher Musik und schrägem Gesang. Die audiovisuellen Geräte drinnen waren offensichtlich wieder angeschaltet worden. Aber wie konnte das angehen? Wartete dort jemand, der unsere Ankunft mit großem Tamtam feiern wollte? Oder war irgendeine Fernbedienung im Spiel?

Die Karawane erreichte endlich den Zufluchtsort. Wir stiegen über die morsche Veranda, gingen hinein und versammelten uns im Salon. Es brannte eine Vielzahl an Kerzen, die den riesigen Raum dämmerig erleuchteten. Die Spulen der Tonbänder kreisten, die Kassettenrecorder liefen, das Vinyl drehte sich auf den Plattentellern, und die Videorecorder zauberten höchst merkwürdige Filme auf die Monitore. Auf einem lief »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl, der Propagandafilm über den NSDAP-Reichsparteitag 1934, und auf einem anderen waren die verwackelten Aufnahmen von einer dekadenten Party mit halbnackten Menschen an einem Swimmingpool zu sehen. Blutbesudelte Nackedeis tanzten um einen Götzen. Aus den Lautsprechern dröhnten Haßtiraden von irgendwelchen Predigern und Interviews mit Kinderschändern im Knast. Dann wieder Kriegsgesänge von Urwaldstämmen, die sich solcherweise mit Mut aufpumpten, bevor sie den Nachbarstamm massakrierten, und Reden von Gevatter Josef Stalin. All dieses aus Menschenmund entströmende Übel verquoll miteinander und wurde zum akustischen Äquivalent von Erbrochenem. Und schon bald war es nur noch ein unerträglicher Radau, eine disharmonische Melodie des Bösen, welche in den Ohren schmerzte. Ich begriff allmählich, welchem Sound Refizul hier in Wahrheit die ganze Zeit gelauscht hatte.

Auch die Optik glich sich der Akustik immer mehr an. Obwohl die Kerzen nicht mehr als einen schwachen Schein erzeugten und alle Anwesenden teilweise von Schatten verhüllt wurden, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Meinen Artgenossen erging es offenkundig genauso, denn sie wichen vor den Patienten a. D. peu à peu zurück. Die neugewonnene Freiheit schien die Greise weder zum Blühen zu bringen noch ihnen sonst irgendwelche freundlichen Züge zu entlocken. Ganz im Gegenteil, sie waren in einer Metamorphose der besonderen Art begriffen – und verwandelten sich stetig weiter! Nicht allein, daß Männlein und Weiblein immer schlimmere Buckel bekamen, sondern auch andere Körperteile, vor allem jedoch die Physiognomien, lieferten sich einen Wettstreit fortschreitender Deformation. Es sah aus, als würden Wachsfiguren zerlaufen und sich zu etwas völlig neuem transformieren. Die schmutzigen Nachthemden fielen eins nach dem anderen von ihren Körpern ab, doch in Anbetracht der jähen Blöße wurden wir anstatt von Schamgefühl von blankem Entsetzen gepackt.

Graue Wülste und finster pulsierende Venen wuchsen aus ihrem welken Fleisch, die zwar nicht weniger hinfällig aussahen, jedoch in ihrer Mißgestalt etwas Unzerstörbares, ja Altersloses zu besitzen schienen. Gleichzeitig krümmten sich die Leiber, Arme und Beine verwandelten sich in schiefe Gliedmaßen, und Hände und Füße wurden zu Klauen mit dolchspitzen, giftgelben Nägeln. Am beeindruckendsten war aber die Umgestaltung der Köpfe. Sie schwollen auf das Doppelte ihres ursprünglichen Volumens an. Gleichzeitig zogen sich die schlohweißen Haare zu den Wurzeln in der Kopfhaut zurück und verschwanden schließlich völlig, so daß nur noch speckige Glatzen zu sehen waren. Die Augen blähten sich tennisballgroß auf und färbten sich pechschwarz, die Ohren formten sich zu spitzen Trichtern. Die Münder waren jetzt Striche, und als die Strichlippen sich öffneten, entblößten sie eitergelbe Gebisse mit messerscharfen Stümpfen. Dann kam die Krönung. Zerfledderte Flügel, die offensichtlich aus einer transparenten, auberginefarbenen Membranhaut bestanden, brachen krachend aus den Rücken hervor, schlugen einige Male aneinander und breiteten sich am Ende in ihrer ganzen widerwärtigen Pracht aus. Ein ekelhafter Gestank entströmte den Kreaturen der Finsternis, und sie gaben Laute von sich, als würden sie Worte rückwärts sprechen, die sich aber wohl vorwärts ausgesprochen nicht weniger gruselig anhörten.

Die Dämonenarmee stand nun vor uns wie ein Realität gewordener Alptraum. Ich merkte es meinen Brüdern und Schwestern an, daß auch sie mit diesem Ausgang des Ausbruchs nicht gerechnet hatten. Aus den Augenwinkeln registrierte ich auf unserer Seite in Schock aufgerissene Augen und gesträubtes Fell. Viele nahmen die bei unseresgleichen in Streßsituationen typische Körperhaltung ein, duckten den vorderen Teil mit ausgestreckten Beinen und streckten den hinteren buckelhaft in die Höhe. Aggressives Jaulen entrang sich mancher Kehle, als hätten wir es hier mit einem Zweikampf unter unseresgleichen zu tun. Allein Efendi, der verständige schwarze Bruder in vorderster Reihe machte einen ziemlich ungerührten Eindruck, als hätte er das alles kommen sehen.

Selbstverständlich war einer der vermeintlichen Patienten von jeglicher Metamorphose verschont geblieben. Er hatte eine so plumpe Horrorshow nicht nötig, um das Publikum von seinem einzigartigen Status zu überzeugen. Refizul baute sich in seinem albernen Nachthemd vor seinen deformierten Gehilfen wie ein über allem erhabener Patron auf und lächelte hintergründig. Seine hüftlangen Silberhaare flatterten in einem Windzug wie Algenfäden in heftiger Strömung, und die blauen Augen funkelten gleich Signallichtern.

»Es war so einfach!« sagte er salbungsvoll. »Es war so einfach, sie herumzukriegen. Nein, meine vierbeinigen Freunde, ihr seid damit nicht gemeint. Es war so einfach, die Menschen von, nun ja, meiner Sicht der Dinge zu überzeugen ...«

 

»Gib dich bloß nicht der Illusion hin, daß irgend etwas verjährt sei, nur weil ich dir siebzehn Jahre Zeit gelassen habe, Francis«, sagte Refizul mit leiser Stimme und lenkte meinen Blick weg vom Flammenschein des Kamins. Als ich zu ihm hinüberschaute, saß im Sessel ein kleiner, blonder Junge von etwa zehn Jahren in einer kobaltblauen Schuluniform. Er trug kurze Hosen, ein dunkles Käppi auf dem Kopf, und auf der Brustseite seines Sakkos prunkte das goldgestickte Emblem einer Eliteschule. »Zeit spielt für mich eine untergeordnete Rolle. Auch mit dem Alter nehme ich es nicht so genau, wie du siehst. Ich kann warten. Aber irgendwann ist Zahltag.« Es fröstelte mich, diese herbe Altmännerstimme aus dem Mund eines Kindes zu hören, das sich mir wie die Inkarnation der Unschuld präsentierte. Zum Glück (oder zu meinem Pech) wußte ich, daß derlei Scharlatanerie noch zu den schwächsten Kunststücken meines Gegners zählte. Ich wollte ihm nicht den Gefallen tun, daß er sich in meiner Aufmerksamkeit suhlte, und wandte den Kopf wieder den Flammen zu.

»Geht es denn nicht ohne mich, Refi? Wenn ich mir das großkotzige Knusperhäuschen hier und das Depot mit der lebenden Ware darin betrachte, hast du dein Ziel doch schon längst erreicht.«

»Könnte man meinen, könnte man meinen, lieber Freund. Aber du wirst es mir nicht glauben, auch in meinem Gewerbe existieren gewisse Spielregeln. Gesetze und Paragraphen und so ein Zeug. Schrecklich! Eine Entbüro-kratisierung und eine mutige Justizreform sind hier dringend vonnöten. Solange sich jedoch nichts ändert, müssen wir uns an das Althergebrachte halten. Erinnerst du dich, was Dr. Gabriel in der ... in meiner Anstalt zu mir sagte, bevor er und seine Kumpane mich elektroschockten?«

Ich merkte, daß hinter meinem Rücken etwas vor sich ging, und richtete den Blick erneut zurück. Nun stand Dr. Gabriel vor dem Ledersessel. Der junge Mann mit den akkurat gescheitelten Haaren und einem derart vor Gesundheit strotzenden Gesicht, daß sich mir Assoziationen von Fernsehspots für Haferflocken aus dem Bio-Bauernhof aufdrängten, schien aus einem Timetunnel gekommen zu sein. Seine stattliche Statur, das manierierte Lächeln um die Mundwinkel und last not least der weiße Arztkittel, in dem er steckte, nichts an ihm hatte sich seit den bösen alten Anstaltszeiten verändert.

»Du bist schon einmal gefallen, Refizul, und viele Male danach«, sagte Dr. Gabriel. »Manchmal hast du gewonnen, manchmal wir. Doch das letzte Gefecht wirst und kannst du nicht gewinnen. Denn dafür brauchst du einen Verbündeten, der stärker ist als du selbst.«

Dann machte es Paff!, und nur ein Rauchkringel schwebte an der Stelle, wo eben noch der gute Doktor gestanden hatte. Refizuls Kopf kam langsam hinter dem Sessel zum Vorschein. Schließlich erhob er sich zu seiner ganzen Größe und grinste diebisch, als hätte er mich bei Mau-Mau geschlagen.

»Wäre es zuviel verlangt, wenn du im Verlauf der weiteren Unterhaltung dieses Schmierentheater lassen würdest, Refi? Wir sind hier nicht auf einem Kindergeburtstag.«

»Oh, entschuldige, mein Freund, aber es ist fast aussichtslos, einem Jahrtrillionen alten Zausel seine schlechten Angewohnheiten auszutreiben. Ich gelobe jedoch Besserung.« Er ließ sich wieder in den Sessel fallen und schnappte sich das Notebook vom Boden. »Du verstehst, worauf ich hinauswill? Ohne einen starken Verbündeten, den Auserwählten, hätte ich das Projekt damals nicht anleiern können. Selbst jetzt hängt das Gelingen einzig und allein von deiner Zustimmung ab. Denn die Hauptregeln in diesem Spiel heißen: Der Auserwählte muß einen Übermensch..., pardon, einen übertierischen Willen besitzen und mir aus freien Stücken zu Diensten sein.«

»Klar, und mein Onkel legt karierte Eier!« Der Kerl machte mich langsam ganz schön wütend. »Du hast mich angelogen, Refizul, und zwar nach Strich und Faden. Deshalb ist unser einstiger Pakt null und nichtig.«

»Irrtum, mein Bester! Ich habe dich vielleicht verführt, die Frucht etwas fruchtiger gepriesen, als sie es in Wahrheit war, und die Zukunft in rosigeren Farben dargestellt. Aber in der Sache selbst habe ich dich nicht angelogen. Richtiges Lügen ist mir nämlich vom Chef untersagt. Leider. Du hast meine Vision begierig in dich aufgesogen und nicht die Konsequenzen bedacht, wenn tatsächlich Tiere mit Menschen sprechen könnten. Wie alle meine Kunden wolltest du allein die leuchtende Seite der Medaille sehen. Ich fordere meinen Tribut!«

»Eine Kleinigkeit hast du aber zu erwähnen vergessen, du Genie.«

»So, welche denn?«

»Du hast mir verschwiegen, daß du der schlimmste Mörder seit Tier..., pardon, seit Menschengedenken bist.«

 

»Die Menschen«, sagte Refizul und lächelte listig, während der unerträgliche Sound aus den Geräten langsam erstarb. »Es war so einfach, sie herumzukriegen. Weil sie einfache Lösungen lieben.«

Die Dämonen hatten sich vor uns wie zu einem Gruppenbild in der Hölle aufgereiht. Grüngelbliche Sekrete sickerten aus ihren Körperöffnungen und liefen an ihren grauen Leibern herab. Der Gestank, den sie dabei absonderten, eine nach Fäulnis, Fäkalien, Krankheit und Tod riechende Ausdünstung, erschlug uns regelrecht. Ihre Gesichter waren greuliche Fratzen. Aus ihren unförmigen Astlöchern ähnelnden Mäulern schlängelten sich feuerrote Zungen. Ihre wie von Motten zerfressenen, dunkelvioletten Flügel schwangen gemächlich, und ihre entstellten kleinen Ärmchen haschten in der Luft, als wollten sie schon einmal demonstrieren, was sie mit uns zu tun gedachten, wenn wir nicht nach ihres Meisters Pfeife tanzten.

Inzwischen hatten meine Artgenossen und ich uns in einem respektvollen Abstand zu den Verwandelten Rücken an Rücken zusammengerottet und ließen die Freakshow atemlos über uns ergehen. Der eine oder andere winselte vor Angst oder knurrte verzweifelt. Manch einen ließ die Blase im Stich. Efendi war an meiner Seite, verzog jedoch keine Miene. Mir war unbegreiflich, wie wir, nein, wie ich mich in diesen Gestalten so hatte täuschen können. Es mußte doch vorher Hinweise auf das Desaster gegeben haben. Fetzen des Gesprächs über die Sumerer, das ich mit Refizul geführt hatte, flogen mir durch den Sinn. Es war darin um den sumerischen Kult um das Tier gegangen. Aber auch um eine Erscheinung, die damals vor sechstausend Jahren zum ersten Mal die Weltbühne betreten hatte.

»Waren diese Sumerer nicht das Völkchen, das auch die Figur des Teufels erfunden hat?« hatte ich wissen wollen. »Ja, aber das ist eine andere Geschichte«, hatte der Alte darauf geantwortet. Lügner! Es war dieselbe Geschichte.

Der Lügner stolzierte derweil wie ein imposanter Gockel zwischen uns und den Dämonen auf und ab. Der Kerzenschein verwandelte ihn in einen gebräunten Monsieur, der nur rein zufällig ein Bekloppten-Hemd trug und Gesellen aus einem Nachtmahr seine Kumpel nannte. Ehe wir es richtig mitbekamen, hatte er eine Selbstgedrehte zwischen den Fingern. Er pustete einmal darauf, und schon paffte der Stengel. Nachdem er inhaliert hatte, kamen aus seinem Mund übernatürlich dichte Schwaden gewabert. Der Rauch begann uns langsam einzuhüllen.

»Früher, ja, früher hatte ich mit den Menschen kein so leichtes Spiel«, sagte er. »Sie sperrten sich irgendwie gegen den Lifestyle, mit dem ich sie lockte. Doch dann, so nach und nach, fanden sie Gefallen daran, die dunkle Seite ihres Ichs kennenzulernen. Hast du ein Kind, dann laß es vom Staat versorgen oder am besten gleich verhungern. Liebst du eine Frau, sieh zu, daß du sie ins Bett kriegst, Sex genügt. Wofür sich in Unkosten stürzen? Liebst du einen Mann, vergiß nicht, ihn auszunehmen. Familie? Wer braucht schon eine Familie, wenn Familienleben schon in den TV-Serien nur nach Ärger riecht? Du genügst dir selbst. Überhaupt Liebe ... Ist Haß nicht viel aufregender? Keine Liebe der Welt kann dir so ein Gefühl geben wie das einzigartige, erregende Schaudern, wenn du jemandem mit einem Rasiermesser das Gesicht zerstückelst. Schau weg, wenn am Arsch der Welt millionenfach terrorisiert, vergewaltigt, gefoltert und massakriert wird. Was schert es dich? Schließlich hast du genug Streß mit deiner Urlaubsplanung. Oder sag einfach, die Juden wären an allem schuld. Das kommt immer super an. Duck dich, wenn es eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen gilt, laviere dich so durch, küsse stets demjenigen den Hintern, der dir die meisten Vorteile verschafft. Sag, du machst dir Sorgen um das Ozonloch, solch ein Bekenntnis macht jedenfalls mehr Eindruck, als wenn du den Leuten dauernd von der Pflege deiner gebrechlichen Mutter erzählst. Versuche Kinderschänder und Massenmörder zu verstehen, schließlich hatten sie eine echt beschissene Kindheit. Stell dich taub gegenüber den Bitten deiner Freunde, wenn sie in Not geraten, Freunde sind nur gut für gute Zeiten. Bete das Geld an, vertrau mir, eine Rolex an deinem Handgelenk bedeutet den Leuten weit mehr als tausend Weisheiten aus deinem Mund. Sei hinterhältig, sei unersättlich, sei mitleidslos. Wahre den Schein und bleibe stets jung und gesund, denn, Menschenskind, was nach dem Leben kommt, ist bestimmt kein Zuckerschlecken. Darauf mein großes Indianerehrenwort!«

Der Rauch der selbstgedrehten Zauberzigarette hatte inzwischen einen Dunstschleier entstehen lassen, durch welchen die brennenden Kerzen diffus glommen. Ein ganz anderes Licht war da viel intensiver. Die finsteren Glubschaugen der Dämonen leuchteten plötzlich im irisierenden Rot. Zahllose glühende Augenpaare beobachteten jede unserer Bewegungen und hielten uns so in Schach. Allein Refizuls Augen, welche wie die eines Hypnotiseurs durch den Raum glitten, strahlten durchdringend blau und klar wie immer. Nichtsdestotrotz begann die Metamorphose jetzt auch bei ihm, allerdings weniger in ekelerregender denn recht stilvoller Manier. Das Nachthemd fiel von ihm ab. Für einen »Mann« in seinem Alter wirkte er außergewöhnlich sehnig und muskulös. Eine Art lackglänzender schwarzer Schleim bemächtigte sich gleich einer zweiten Haut von den Füßen aufwärts seines Körpers.

»Was soll ich sagen, Freunde, zwischenzeitlich war ich ziemlich verzweifelt«, fuhr er fort und schnippte die Zigarette durch die Luft. Zum Erstaunen aller dampfte er unverändert weiter aus dem Mund. »Da gibt es doch böse Zungen, die behaupten, daß ich die ganze Hand nehme, wenn man mir nur einen Finger reicht. Bei den Menschen war es genau umgekehrt. Ich war es, den sie sich mit Haut und Haaren einverleibten. Natürlich hat es mir geschmeichelt, daß sie sich mit meinen Ideen so gänzlich anfreundeten. Ich hatte sie gelehrt, ihre wahre Natur kennenzulernen, in den schwarzen Spiegel zu schauen, den Gottestext doch einmal rückwärts zu lesen. So wie man meinen Namen rückwärts lesen sollte, um meine wahre Natur zu erfahren. Aber was hatte ich damit erreicht? Ich wurde arbeitslos!«

Die schwarze Substanz schleimte Luzifer nicht nur ein, sondern modulierte ihn auch. Es war eine äußerst kreative Masse. Seine nunmehr speckig glänzenden Beine ähnelten immer mehr den leicht abgeknickten Hinterbeinen eines Pferdes, vielleicht denen eines Araberhengstes. Das Klappern von Hufen war zu vernehmen. Sein Hinterteil bekam etwas obszön Voluminöses. Langsam wuchs ihm ein prächtiger Schwanz.

»Ich stand auf dem höchsten Berge mit meinen Cherubim — oh Verzeihung, darf ich vorstellen ...« Er vollführte mit dem Arm eine feierliche Geste wie ein Conferencier, der eine Topband ankündigt. »Diese Hübschen hinter mir sind meine kleinen Helfer, jedenfalls wenn sie nicht gerade irgendwelchen Unsinn aushecken – meine Cherubim. In der Anstalt brauchten sie sich gar nicht so viel zu verstellen. Wie auch immer, ich stand also auf diesem dämlichen Berg mit meinen Angestellten und rief, daß mir endlich, endlich die ganze Welt zu Füßen beziehungsweise zu Hufen liege. Da meldete sich plötzlich seine Stimme. Es ist mir nicht gestattet, den genauen Wortlaut wiederzugeben. Aber soviel war klar: Gabriel, Michael, Raphael, Uriel und Raguel, diese fünf Clowns, die volkstümlich auch Erzengel genannt werden, hatten mein 1:0 über ihren sogenannten Vater nicht verhindern können. Die ganze Menschheit feuerte mittlerweile meinen Verein an. Aber, und jetzt kommt's, die Welt wurde ja nicht nur von Menschen bevölkert. Scheiße, das hatte ich total übersehen! Die Unschuld, die es zu beflecken und zu zerstören galt, sie steckte ja ohnehin nur in homöopathischen Dosen im Menschengeschlecht. Doch was war mit all den anderen, denjenigen, welche die ungetrübte Unschuld in sich tragen, den Tieren?«

Der Schleim arbeitete sich immer weiter hoch und erschuf einen Oberkörper, der vorne dem Brustpanzer eines antiken Kriegers glich und im restlichen Bereich dem gerechten Lohn eines Bodybuilders nach jahrzehntelanger Schinderei. Die Arme wurden zu baumstammdicken Ausläufern und die Hände zu Monstergreifern mit überlangen, knochigen Gliedern. Die ganze Pracht glänzte im hinreißenden Schwarzlack. Gleichzeitig verdoppelte sich seine Körpergröße. Ich bekam allmählich Kopfschmerzen von dem rauchgeschwängerten Alptraum, den ich heraufbeschworen hatte.

»Von da an hatte ich zwei gravierende Probleme«, sagte Luzifer und, Klapper-Klapper-Klapper! trampelten seine Hufe auf dem Holzboden. »Ich wußte, daß er mir so ein Ding wie das mit den Menschen nicht noch mal durchgehen lassen würde. Er ließ mir durch diese fünf Versager vorsorglich eine noch schärfere Kontrolle angedeihen. Ich gelobte Besserung und entschied mich für ein Irrenhaus, indem ich Chef und Irrer gleichzeitig sein konnte. Das zweite Problem allerdings schien unlösbar. Echte Unschuld ist nicht verführbar. Man kann euch Tieren nicht mit einer Villa in Florida mit fünfzehn Schlafzimmern oder einer heißen Nacht mit dem angesagtesten Filmstar vom rechten Weg abbringen ...«

Langsam reichte mir das allwissende Geschwätz dieses Mensch-Tier-Ungeheuers. Ich sprang ihm vor die Hufe und fauchte derart aggressiv, daß sich meine sämtlichen Haare aufstellten und ich wie ein besonders gut gepflegter Kaktus aussah. Meine Schnurrhaare zitterten wie angeschlagene Klavierdrähte.

»Halt endlich deinen verfluchten Mund, du Dummschwätzer!« schrie ich ihn an. »Niemand interessiert sich für deine Machenschaften. Und es ist uns vollkommen egal, ob du der Leibhaftige bist oder das sprechende Auto Kit. Entschuldige dich lieber bei denjenigen, deren Vertrauen du so schändlich mißbraucht hast. Wir können nämlich auch anders. Weißt du auch, warum? Wir haben den besseren Draht zu ihm.«

»Du nimmst mir das Stichwort aus dem Mund, Dude. Sekunde mal ...«

Die finstere Brühe hatte inzwischen seine Kehle erreicht und stieg unaufhaltsam höher. Dabei formte sie auf dem bizarren Riesenleib ein nicht weniger bizarres Haupt. Der Kopf eines Ochsen, nein, eines Stiers wuchs ihm nun aus dem Arnold-Schwarzenegger-Hals empor und brachte die frevelhafte Kreation zur Vollendung. Der Bullenschädel besaß die Größe eines Heuballens. Die Augen strahlten immer noch in dem intensiven Blau, hatten sich jedoch enorm vergrößert. Ein goldener Nasenring schmückte den einstigen Professor, und als er, genauer gesagt, als es das gräßliche Maul aufriß, blickte ich anstatt in ein Rindergebiß geradewegs in die Fletschzähne eines Leoparden.

»Ja, ja, Dummschwätzen«, fuhr Luzifer fort, mit einer Stimme, die sich anhörte, als rülpse ein Bär nonstop durch eine Pipeline. »Das ist die Spezialität der Menschen. Muß wohl auf mich abgefärbt haben. Ich bin gleich fertig, dann bist du wieder dran, Dude. Nun ja, ich überlegte eine Weile, wie ich auch das Getier auf meine Seite ziehen könnte. Da kam mir eines schönen Tages der Einfall mit dem — Dummschwätzen! Wißt ihr, meine lieben Freunde, die Sprache ist nicht irgendwas. Sie macht alle gleich. Der Manipulation sind Tür und Tor geöffnet. Sobald die Tiere mit den Menschen sprechen können, werden sie als erstes Forderungen stellen. Die Menschen werden für kurze Zeit den Atem anhalten und Krokodilstränen ob ihrer jahrtausendealten Schuld vergießen. Alsbald aber werden auf die gerechten Forderungen der Tiere Wünsche und Bedürfnisse folgen, die denen der luxusverwöhnten Zweibeiner nicht unähnlich sind. Dann geht es los mit den Schadenersatzklagen, Quotenregelungen, Talkshow-Auftritten und der üblichen Dekadenz. Nur ein bißchen später werden bestimmte Tierarten andere bei den Menschen denunzieren. Dann dauert es nicht mehr lange, bis artspezifische Parteien entstehen, Widerstandsgruppen Terrorakte verüben und sich Egoismus und Degeneration artübergreifend manifestieren. Mein Geburtstagsgeschenk an die Welt – eine gemeinsame Sprache zwischen Tier und Mensch! Sie wird alle gemein machen, nämlich gemeinsam schlecht! Und dann wird endlich auch der letzte Funke an Unschuld aus der Welt verschwunden sein.«

»Blödsinn«, sagte ich. »Keiner von uns wird irgend jemanden denunzieren. Und deine blöde Sprache kannst du für dich behalten. Niemand von uns will sie mehr sprechen.«

»Bist du dir da so sicher, Dude?« Das Teufelsding beugte sich zu mir herab und schaute mir direkt in die Augen. Ich spürte die überwältigende Kraft, die von ihm ausging. Der laut schnaufende Stierkopf verströmte einen Geruch, der an verbotene, aber unbeschreiblich verlockende Gefilde erinnerte. In seinen kobaltblauen Augen schienen ganze Weltreiche zu schwimmen, die er gewiß schon zerschmettert hatte. War mein Ende nun besiegelt? Er grinste nur und richtete sich wieder auf, was an das Manöver eines riesigen Baukrans erinnerte.

»Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, daß ich für das Experiment eure Rasse nicht von ungefähr ausgesucht habe, Dude? Tu nicht so, als gäbe es bei den Kreuchenden und Fleuchenden keinen Standesdünkel. Halten die Felidae diejenigen, die Stöckchen apportieren, nicht für geistig etwas minderbemittelt? Und diese wiederum, denken die nicht, daß Schafe ziemlich doof sind? Und glauben Schafe denn nicht, daß das Kaninchen das Lächerlichste ist, was die Natur je hervorgebracht hat? Es wird ein ziemliches Gedränge beim Kriechgang in den Arsch der Menschen geben, wenn endlich Tacheles geredet wird, fürchte ich.«

Luzifer spazierte die Reihe seiner Cherubim ab. Zärtlich streichelte er über die Fratze eines jeden einzelnen von ihnen und tätschelte liebevoll ihre Köpfe. Die gefallenen Engel schienen bei der Berührung mit seinen Klauen geradezu dahinzuschmelzen. Ihre eh schon unansehnlichen Visagen wurden endgültig zu Zerrbildern. Die Augenlider verengten sich, und gurkenlange Zungen haschten innig nach den Knochenfingern des großen Meisters. Manch einer kotzte schlicht und einfach einen senfgelben Mus, weil ihn wohl so viel Erfüllung überforderte.

»Nein, mein Lieber, ich habe für mein Projekt schon die richtige Tierart ausgewählt«, sagte Luzifer wie nebenbei. »Eine, von der allgemein bekannt ist, daß sie schon von jeher eine gewisse Wellenlänge zu mir hat. Ich ging nach einem ausgefeilten Plan vor. Zunächst suchte ich mir Fänger aus, Spitzohren, die sich besonders zu mir hingezogen fühlten. Eigentlich schwache Persönlichkeiten, die aber ein vertrauensvolles Wesen besaßen und von ihren Artgenossen geschätzt wurden. Sie bildeten Zirkel, Anziehungspunkte für Gestrandete. Das konnte ein Tierheim, ein selten aufgesuchter Keller oder – ein ausgetrocknetes Brunnenbecken sein. Die Fänger hatten eine klare Aufgabe: Es galt zu selektieren und Talente zu finden, die mit der entsprechenden Sprachbegabung ausgestattet waren. Vor allem aber galt es, so etwas wie einen Messias unter ihresgleichen zu finden, der die Sache mit Inbrunst verfolgte und mit mir freiwillig den Pakt abschloß. Mal unter uns: Dieser ganze Freie-Wille-Scheiß ging mir schon immer mächtig auf den Sack. Zur Sprache gehört Schrift, also versorgte ich die meinigen mit Büchern. Darin konnten sie schon einmal studieren, wie verkommen der Mensch ist. Natürlich wußte ich insgeheim, daß dieses in schöne Worte gefasste Elend sie faszinieren würde. Die Sünde ist immer aufregender als die öde Unschuld. Keine Sau kann sich ewig tolle Sonnenuntergänge anschauen. Aber Bilder von Kummer, Leid und Perversion erfreuen sich stets großer Beliebtheit. Um es kurz zu machen, mein Plan ging auf.«

»Es scheint leider so.« Ich wischte mir mit einer Pfote die Tränen aus den Augen. Wahrscheinlich flossen die Tränen weniger wegen der Erkenntnis um den Tod der Unschuld, als vielmehr wegen der sehr menschlichen Angewohnheit, daß man sich bei selbstverschuldeten Fehlern selbst unendlich leid tat. Kompliment, mein Mentor hatte ganze Arbeit geleistet! Ich fühlte schon ganz wie ein Mensch. »Aber wieso mußten so viele von uns auf dem Weg zur Menschwerdung sterben?«

»Gute Frage«, erwiderte Luzifer und wandte sich wieder uns zu. »Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, sagt man. Doch es war mehr als das. Wißt ihr, wenn das alles vorbei ist, ziehe ich wieder weiter. Auf einem sehr friedlichen Planeten irgendwo in Andromeda wartet man schon sehnsüchtig auf meine Ankunft. Man kann mir Schlamperei vorwerfen, aber bestimmt nicht, daß ich nach getaner Arbeit nicht hinter mir aufräume und Spuren hinterlasse — oder Zeugen. Dieser aufgeblasene Kerl da oben achtet penibel darauf, ob ich nicht trickse. Aber zum Glück hat er einen sehr anstrengenden Job und kann seine Augen nicht überall haben. Schau her, Dude ...«

In den Rauchschwaden zeichnete sich langsam eine Art Bild ab. Es hatte keinen Rahmen, keine Begrenzung und auch sonst nichts, was ein herkömmliches Bild ausmacht.

Es war so etwas wie eine dreidimensionale Vision, welche uns wie die Luft zum Atmen auf allen Seiten umgab. Mit einem Wort, mit einem Mal waren wir mittendrin im Geschehen. Wir sahen eine düstere Bestie vor uns. Sie besaß riesige Facettenaugen, zangenartige Kauwerkzeuge, zwei lange Fühler auf dem Kopf, die ständig in Bewegung waren, vibrierende Flügel und sechs Beine. Die vielen schwarzen Härchen, mit denen ihr panzerartiger Körper überzogen war, lösten Ekelreflexe aus.

Dann jedoch flog sie außer Reichweite, und wir stellten überrascht fest, daß es sich bei dem greulichen Monster lediglich um ein winziges Insekt handelte. Meine Entspannung hielt sich allerdings in Grenzen, erkannte ich doch sofort das Flugareal. Von draußen aus der Nacht über den Wiesen düste die Fliege hinein in das leere Wasserrohr in Richtung des Brunnenbeckens, dorthin, wo meine glückliche Jugend ein jähes Ende gefunden hatte. Schließlich erreichte sie ihr Ziel, und mir ging auf, daß ich einem magischen Dokumentarfilm über die jüngste Vergangenheit beiwohnte. Zwischen den Bücherstapeln, den Kerzenständern und dem allgegenwärtigen Müll schliefen die Dudes ihren Minzerausch aus. Nur wenige der Kerzen brannten noch, und das schummerige Licht hüllte alle meine gewesenen Freunde in einen goldenen Schimmer. Da oben auf dem höchsten Bücherturm erblickte ich Madam; sie zuckte, wenn sich unsere Kinder in ihrem Bauch bewegten. Und dort unter einem Bücherhaufen lag mit ausgestreckten Beinen Eloi und schnarchte mit sämtlichen Sägewerken der Welt um die Wette. Ich selbst fehlte, weil ich gerade meine ersten Schritte in die Selbständigkeit übte.

Die Fliege drehte einige Runden über der friedlichen Gemeinschaft und schwebte dann auf Eloi zu. Sie ließ sich auf seiner Nase nieder, krabbelte darauf ein wenig unschlüssig herum und kroch dann unversehens in eins seiner Nasenlöcher. Der verwahrloste Siam riß schlagartig die Augen auf, doch ich erkannte meinen guten Freund nicht wieder. Sein saphirblauer Blick besaß etwas derart Haßerfülltes, daß er damit selbst tote Vulkane hätte zum Ausbrechen bringen können. Haßverzerrt war auch seine gesamte Physiognomie. Sie glich der eines gelifteten Menschen, bei dem die Gesichtshaut zu den Ohren hin bis an den Rand des Zerreißens gestrafft wurde. Mit einem unheimlichen Knurren schaute sich der gewandelte Eloi um. Aus seinem Maul tropfte Sabber. Und dann begann das Blutbad ...

Hätte ich nur Hände besessen, hätte ich sie mir vors Gesicht gehalten, um nur gelegentlich zwischen den Fingern einen Blick auf den laufenden Horrorfilm zu riskieren. Eloi schlich sich der Reihe nach an jeden Schlafenden heran und schlug seine Hauer mit unglaublicher Brutalität in dessen Hals oder Genick. Das herausspritzende Blut schien ihn weder zu stören noch wieder zu Bewußtsein zu bringen. Im Gegenteil, er suhlte sich in dem Lebenssaft, als sei er ein stampfender Winzer in einem Bottich voll roter Trauben. Gleichwohl gab er sich große Mühe, die anderen bei seiner Schandtat nicht zu wecken. Denn er wollte auch dem letzten den Garaus machen. Ein Blutsee bedeckte bald den ganzen Boden. Und damit auch die Wände und Bücherstapel nicht zu kurz kamen, rieb sich der Meuchelmörder mit seinem blutverschmierten Fell daran. Er steigerte sich in einen regelrechten Blutrausch.

Nur einmal schien es, als könne er sein Werk nicht vollenden. Der alte rote Zausel wachte plötzlich auf, und da seine Minzedosis an diesem Tag wohl zu niedrig gewesen war, erfaßte er die brenzlige Lage mit einem Blick aus seinen Kupferaugen. Er hielt sich gar nicht erst lange mit einer Schockreaktion auf, sondern rannte sofort zum Tunnel. Doch er hatte eine Sekunde zu spät reagiert. Eloi bemerkte ihn, setzte ihm nach und erwischte auch ihn. Als der Henker sich zum schrecklichen Abschluß Madam vornahm, wandte ich mich mit Grauen ab.

»Ende der Diashow«, sagte Luzifer und ließ die Bilder des Entsetzens verschwinden.

»Was ist aus Eloi geworden?« fragte ich mit zitternder Stimme.

»Keine Ahnung. Nach dem Massaker hat er sich totgestellt. Du bist selbst darauf reingefallen. Er wird ein Wanderer geworden sein. Ihr kennt bestimmt diese ruhelosen Wesen, die es an keinem Ort lange hält und die einsam und stumm ihrer Wege ziehen. Sie sind verflucht, und mit ihnen auch ihre Nachkommen. Ja, ja, der Weg zur Hölle ist gar nicht so weit; manchmal genügt ein Blick ins eigene Herz, und schwuppdiwupp! ist man da. Kann man nichts machen, das ist der Preis für die Mitgliedschaft in meinem Club. Eigentlich schade, denn Eloi war der beste Verbündete, den ich je hatte. Doch niemand ist unersetzlich.«

»Du glaubst tatsächlich, daß wir dir nach all dem, was vorgefallen ist, die Treue halten?«

»Was bleibt euch übrig? Ihr wurdet speziell zu diesem Zweck ausgesucht und habt alles schön mitgemacht. Ihr wolltet doch unbedingt mit den Menschen sprechen. Ich mache nur Vorschläge. Was dich angeht, mein Lieber, hast du wohl keine andere Wahl. Du hast den Pakt mit mir geschlossen. Ach, wenn ich es noch am Rande erwähnen darf: Keiner verschreibt sich einfach so der Sünde, wenn er nicht eine gewisse Beziehung zu ihr unterhält. Das gilt für euch alle! Ab jetzt ist Dauerquasseln angesagt.«

»Hör mal, Alder, das ist ja alles schön und gut, was du hier abziehst«, meldete sich unversehens Efendi zu Wort. Der rabenschwarze Gefährte trat aus unserer Wagenburg hervor und stellte sich dem Unhold so furchtlos entgegen, als habe er es mit dem kinderlieben Eiswagenverkäufer zu tun, der immer um diese Zeit bimmelt. »Und dein Scheißaussehen stört mich auch nicht weiter. Schließlich bin ich ja praktisch in Scheiße aufgewachsen. Allerdings warst du mir in deinem Sean-Connery-Look doch etwas sympathischer. Aber du hast recht: Es beginnt eine neue Zeitrechnung – vor allem für mich. Die Abenteuer in der Klapse waren echt lustig, einige der Schwanks werde ich wohl noch meinen Enkeln zum besten geben. Doch selbst die schönste Party hat mal irgendwann ein Ende. Efendi muß sich nun ein richtiges Zuhause suchen. Dir und deinen hochfliegenden Plänen noch alles Gute und toi, toi, toi! Ich ... Mist, ich wollte doch noch etwas sagen ... ach ja – tschüs!« Sprach's, drehte sich um und spazierte einfach in Richtung der Tür.

»Neeeiiin!« kreischte der Stierkopf und trampelte auf seinen Hufen behende wie eine Primadonna Efendi hinterher. Er erwischte ihn auf halber Strecke, griff ihn sich mit zwei Fingern am Genick und riß ihn in die Höhe. Der arme Kerl baumelte wie ein Bündel an der Wäscheleine und ruderte mit allen vier Pfoten in der Luft. Der schwarze Schwanz schlug verzweifelt um sich.

»Niemand verläßt mich!« schrie Luzifer und entblößte sein Mördergebiß. Die Stierzunge leuchtete rubinrot. »Ich bin der Lichtbringer! Ich bin die Morgenröte! Ich bin der Sohn aus dem Schoße Auroras! Ich, Luzifer, werde den neuen Tag anführen, und dieser Tag wird alle verbrennen. Was ich habe, das behalte ich. Und was ich nicht bekommen kann, soll auch er nicht bekommen!«

»Und von so einem Stinkbock habe ich mir mal ein Autogramm geben lassen«, brummte Efendi trotz seiner mißlichen Lage und verdrehte genervt die goldenen Augen. Das Blau in den Augen des Stierkopfs indes wurde um einige Tönungen dunkler. Luzifer riß das gräßliche Maul auf und hackte mit einem einzigen Biß Efendi den Kopf ab. Dann streckte er uns den immer noch zappelnden, blutüberströmten Restkörper demonstrativ entgegen und schwenkte ihn wie eine Trophäe umher, um ihn schließlich gänzlich in seinem Maul verschwinden zu lassen.

Spätestens ab diesem Moment wußte ich, daß wir alle dem Tode geweiht waren. Es gab kein Entkommen, es sei denn um den Preis unseres Seelenheils. Doch war es das bißchen Leben wirklich wert, solch schwere Schuld auf uns zu laden, uns gegen unseren Schöpfer zu stellen und uns zu Erfüllungsgehilfen dieses Scheusals zu machen? Niemals! schrie mein Innerstes, obwohl ich wußte, daß diese Verweigerung viele weitere Opfer kosten würde.

»Jetzt oder nie, Freunde!« rief ich der haarigen Meute hinter mir zu. »Macht, daß ihr hinauskommt! Sie können uns nicht alle erwischen!«

Augenblicklich brach Chaos aus. Die etwa hundert Brüder und Schwestern sprangen los, als hätte man auf ihre Schwänze getreten, und stoben in alle Himmelsrichtungen davon. Einige eilten direkt zum Ausgang oder zu den Fenstern mit den zerbrochenen Scheiben, andere die geschwungenen Treppen hoch, welche zu der Galerie nach oben führten. Luzifer und die Cherubim waren zum ersten Mal perplex. Mit unserem Widerstandswillen hatten sie nicht gerechnet. Die Dämonen tauschten fragende Blicke mit ihrem Herrscher aus. An dessen wutverzerrter Mimik konnte man ablesen, daß ihm diese Konfusion überhaupt nicht in den Kram paßte. Vermutlich hatte er geglaubt, daß er uns genug Angst eingejagt hatte.

Ich sah zu, daß ich selber wegkam. Genau zwischen den Pferdefüßen des Leibhaftigen huschte ich hindurch und rettete mich durch die offene Tür nach draußen. Der Tag brach über dem verwucherten Gelände an. Die Sonne war noch nicht zu sehen, doch die Morgenröte tauchte das Firmament schon in ein sehr intensives Blutorange. Selbst das Grün der Flora schien zu brennen. Ich riskierte einen Blick zurück und sah, wie meine Artgenossen fluchtartig die Villa verließen. Viele hatten über die Galerie die oberen Räumlichkeiten erreicht und sprangen nun durch die Fenster zunächst auf das Vordach, um von dort aus direkt in die Wildnis zu hechten. Die Mehrzahl jedoch nahm den Hauptausgang. Nur die wenigsten versuchten es durch Bruchstellen an der halbzertrümmerten Holzverkleidung. Das Ganze sah aus, als schwärme eine pelzige Armee aus zur letzten Schlacht.

Soweit, so gut. Allerdings war es viel zu schön, um wahr zu sein. Ein Gebrüll erklang aus dem Innern des Gebäudes, das den Erdboden zum Erzittern brachte. Da wurde wohl jemand gerade von einem mächtigen Wutkoller heimgesucht. Gleich darauf kamen die Cherubim aus der Villa herausgeschossen wie Kreaturen aus einem Alptraumzoo. Sie nahmen die Verfolgung mit einem lauten Gekreische auf, das sich wie ein Chor von Gefolterten anhörte. Ihre Fortbewegungsart war ulkig und furchteinflößend zugleich. Eine Mischung aus Känguruh-Hüpfen und den Anstrengungen einer fluguntauglichen Vogelart, die sich nicht mehr als zwei, drei Meter in die Lüfte schwingen konnte. Aus der Ferne vermittelte dieses Nicht-richtig-laufen-und-nicht-richtig-fliegen-Können einen ineffizienten Eindruck, doch es war erstaunlich, wie schnell die Mißgeburten so vorwärts kamen. Jedenfalls schienen sie schneller zu sein als die Flüchtenden, die sich mittlerweile überall auf dem Gelände zerstreut hatten.

Die Morgenröte färbte nun das Cherubim-Gesindel ein. Ihre buckeligen Leiber, die Wasserköpfe mit den überbreiten Mäulern und Stilett-Stümpfen darin, die verwachsenen Leiber und ihre aufgeregt flatternden Flügel wurden von einem erdbeerroten Glanz überzogen. Sie schwirrten über uns wie ein bösartiger Bienenschwarm. Und es dauerte nicht lange, bis die ersten Todesschreie erklangen. Die Teufelsjünger stürzten sich auf jeden meiner Artgenossen, den sie erwischen konnten, fügten ihnen schlimme Bißwunden zu oder rissen sie tot und katapultierten sich dann mit dem Opfer im Maul stolz wieder in die Lüfte. Das Mörderhecheln, das jämmerliche Winseln der Sterbenden und der häßliche Flügelschlag übertönten den ersten Gesang der Vögel. Vom Himmel regnete es Blut.

Mir liefen die Tränen übers Gesicht, und doch lief ich um mein Leben, in der nicht gerade realistischen Hoffnung, daß das Schicksal mich verschonen möge. Angesichts des blutigen Gemetzels, an dem ich keine geringe Schuld trug, schwor ich mir, daß ich nie wieder auch nur ein Wort mit einem Menschen wechseln würde. Ich hoffte nur, daß Gott oder wer auch immer mein reines Herz kannte, meinen Schwur erhörte und mir deshalb Gnade gewährte.

Vor mir tauchte eine Ansammlung wildgewachsener Bäume auf, die sich mit ihren krüppeligen Asten gegenseitig zu erwürgen schienen. Über diesem verlotterten Hain ging endlich die Sonne auf und verjagte die blutige Morgenröte mit ihrem strahlenden Licht. Vielleicht konnte ich mich hier verstecken, bis alles vorbei war.

Ich kroch durch das Gestrüpp und trippelte entlang der Elefantenfüßen ähnelnden Baumstämme bis zur Mitte des Dschungels en miniature. Mein Herz raste, ich zitterte am ganzen Leib, und die Angst hatte sich so tief in meine Seele eingegraben, daß ich dachte, die ganze Welt bestünde nur aus ihr.

»Nein, nicht die ganze Welt, Dude«, sagte eine Stimme.

Ich fuhr herum und sah zwischen den Bäumen den guten alten Refizul stehen. Er steckte in einem weißen Sommeranzug mit gebügeltem Einstecktuch in der Brusttasche. Die langen silbernen Haare waren hinten zu einem Dutt verknotet, und auf seinem Schädel prunkte ein stilvoller Panamahut. Er trug braune Ledersandalen, eine Sonnenbrille auf der Höckernase, deren Gläser vollkommen schwarz waren, und stützte sich auf einen Spazierstock, dessen goldener Knauf eine Dämonenfratze darstellte. Er lächelte milde.

»Im Gegenteil, niemand hat heutzutage mehr Angst. Das ist es ja. Niemand glaubt mehr an das Jenseits. Alle denken, sie werden wiedergeboren. Vielleicht als Anführer eines von Öko-Heinis geschützten Wolfsrudels in Kanada oder als Sproß eines Milliardärs. Jedenfalls nichts, wovor man sich fürchten müßte.«

»Okay, Refi, wie geht es jetzt weiter?« Ich zitterte immer noch. Eins mußte man dem Kerl lassen, immerhin wußte er einem das Fürchten zu lehren.

»Das wollte ich dich fragen.«

»Willst du mich auch töten wie die anderen? Dann töte mich. Eher bin ich tot, als daß ich mit dir gemeinsame Sache mache. Ich werde die Tiere niemals verraten und zulassen, daß sie mit den Menschen gemein werden.«

Das entspannte Bonvivant-Gesicht verwandelte sich in eine wutverzerrte Grimasse. »Na gut, dann töte ich dich eben ...« Er tat einen Schritt auf mich zu, stoppte jedoch, als er merkte, daß ich nicht zurückwich. Er winkte mit dem Spazierstock ab. »Haha, war nur Spaß! Ich kann dich doch gar nicht töten, Dude. Du bist der Auserwählte, und ich kann den Pakt nur mit einem einzigen Tier und nur ein einziges Mal schließen. Weigerst du dich, deinen Part zu erfüllen, wird die ganze Angelegenheit scheißkompliziert. Vielleicht sollte man Anwälte bemühen. Was meinst du?«

»Kein Anwalt.«

»Und ich kann dich wirklich nicht umstimmen?«

»Nein!«

»Mann, du bist ja noch sturer als die vom Finanzamt!«

»Ein Patt also?«

»Hm, laß mich mal überlegen.« Er begann auf dem vertrockneten Pflanzenteppich auf und ab zu gehen, wobei er den Spazierstock bei jedem Schritt theatralisch schwang. Es sah aus, als zerbreche er sich über eine besonders knifflige mathematische Formel den Kopf. Dann blieb er endlich stehen und lächelte mich lauwarm an. »Ich hab's! Wie wär's, wenn wir erst einmal Urlaub machen und etwas Abstand voneinander gewinnen? Wir lassen die Sache einstweilen auf sich beruhen sozusagen.«

»Wie lange denn?«

»Ach, so siebzehn Jahre.«

»Wieso siebzehn und nicht sechzehn oder achtzehn?«

»Weiß nicht, ist nur so ein Gefühl. Vielleicht sieht ja in siebzehn Jahren alles ganz anders aus.«

»Hey, ich weiß doch gar nicht, ob ich überhaupt so lange lebe.«

Sein Blick verklärte sich, geradeso, als schaue er in die Zukunft. »Das wirst du bestimmt, Dude. Und nicht nur das, du wirst eine glänzende Karriere unter deinesgleichen hinlegen. Um es offen zu sagen, auch wenn dir aus den USA starke Konkurrenz droht, wirst du der erfolgreichste und berühmteste deiner Art werden. Und weißt du auch, warum?« Er klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Vitamin B. Ciao bello!«

Er nahm zum letzten Gruße den Hut ab und verbeugte sich vor mir. Dann wandte er sich ab und ging. Nach ein paar Schritten blieb er jedoch noch einmal stehen, ohne sich umzudrehen. »Damit aber eins klar ist, Bürschchen: Den Preis wirst du trotzdem irgendwann zahlen müssen! Ich bin nicht zum Vergnügen hier.«

 

Meine Erinnerung an das, was nach meinem letzten Treffen mit Refizul geschah, ist recht verschwommen. Ich weiß nur, daß ich noch lange Zeit in diesem verwilderten Hain dahockte wie jemand, dessen Wunschtraum endlich in Erfüllung gegangen war. Oder besser gesagt, wie jemand, dessen in Erfüllung gegangener Wunschtraum durch die Rückkehr einer Kreatur zwischen Mensch, Pferd und Stier jeden Augenblick zerstört werden konnte. Eine ziemliche Weile lang hörte ich auch eine gepfiffene Melodie, ich glaube es war »Smoke Gets In Your Eyes«.

Sonst erinnere ich mich an vage, überbelichtete Eindrücke einer ziellosen Wanderung, und dann plötzlich fand ich mich in den Gärten der heruntergekommenen Gründerzeitgebäude wieder. Der Sommer stand auf seinem Zenit, und viele Menschen gaben sich in den grünen Oasen dem Sonnenbaden oder Grillseligkeiten hin. Ich war kurz vor dem Verhungern und so durstig, daß ich glatt ein Wasserwerk hätte überfallen können. Langsam näherte ich mich einem altmodischen Liegestuhl, der unter dem Gewicht, das er trug, jeden Moment zusammenzukrachen drohte. Ein unglaublich dicker und am ganzen Körper wie ein Affe behaarter Mann, der eine verboten enge und häßliche Badehose aus den Siebzigern trug, las darin in einem Buch. Er sah mich wohl aus den Augenwinkeln kommen und wandte den Kopf von den aufgeschlagenen Seiten mir zu. Ich blieb vor ihm stehen und glotzte ihn wie blöde an.

Was blieb mir anderes übrig? Die Alternative wäre gewesen, schlicht und einfach zusammenzubrechen.

»Na, mein Freund, du bist aber ein besonders hübsches Tier«, sagte der Dicke und streichelte meinen Kopf. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob er nicht gerade zufällig eine Kuh geschlachtet hätte. Aber ich hatte mir ja geschworen, mit den Menschen kein Wort mehr zu wechseln, solange ich lebte.

»Wo kommst du denn her?« bohrte er nach. »Siehst ganz schön abgemagert aus. Bist du etwa herrenlos?«

Ich war versucht zu nicken.

»Weißt du, ich will mir schon lange ein Tier anschaffen, weil...« Er seufzte. »Ich bin einsam. Wenn du bei mir bleiben möchtest, dann würde ich dich gern ...« Er warf einen Blick auf mein Hinterteil, schlug das Buch zu und streckte es mir entgegen. Die Welt drehte sich zu wild vor meinen Augen, als daß ich den Titel zu entziffern vermochte. Das einzige, was ich auf dem Cover erkennen konnte, war eine Fregatte auf stürmischer See. »Ich lese gerade einen äußerst faszinierenden Bericht über den legendären Seefahrer Sir Francis Drake«, fuhr er fort, packte mich und hievte mich auf seinen Orang-Utan-Bauch. »Francis ... Was hältst du eigentlich von diesem Namen?«

»Hier stehen wir nun, Francis«, sagte Luzifer und streichelte schier zärtlich über die Bildschirmkante seines Notebooks. Auch wenn sich alles in mir sträubte, an einen solchen Schurken ein Kompliment zu verschwenden, so mußte ich mir doch insgeheim eingestehen, daß ihm der schwarze Dolce & Gabbana-Anzug fabelhaft stand. Nur das verkehrt herum angesteckte Kruzifix auf dem Jackenrevers zeugte von einer minimalen Geschmacksverirrung. Das Kaminfeuer verlieh seiner pfleglich gebräunten und gegerbten Gesichtshaut etwas von einem guten Wein, der im Lauf vieler Jahre die optimale Reife erreicht hat. Die blau glühenden Augen und die langen Silberhaare vollendeten das scheußlich-schöne Kunstwerk.

»Du mußt jetzt eine Entscheidung treffen, wenn du nicht willst, daß Junior für immer aus deinem Leben verschwindet. Ich möchte dich ungern unter Druck setzen, aber wir haben nur noch eine halbe Stunde bis zum Ende der Ebay-Auktion. Wer weiß, in welchen Händen dein lieber Sohn dann landen wird. Vielleicht sind es auch Klauen!«

»Was müßte ich denn tun, wenn ich meinen Part des Paktes erfüllen wollte?« fragte ich. Immer noch lag ich auf dem Schaffell und schaute wie paralysiert in die Flammen, als könnte jede Bewegung die falsche sein.

»Ach Francis, müssen wir dieses leidige Thema immer wieder durchkauen? Du hast es doch damals gleich kapiert. Du sollst der Leitstern einer Bewegung sein, die alle Tiere aus der Sprachlosigkeit der vom Menschen dominierten Welt hinausführt. Die Emanzipation par excellence! Ein kleiner Schritt für dich, aber ein großer für die Verbreitung des Dünnschiß, der täglich Milliarden von Mündern entströmt. Jetzt kommen eben noch die tierischen Mäuler hinzu.«

»Der kleine Unterschied wird also verschwinden. Und damit die Ordnung, die er vorgesehen hat.«

»Du hast es erfaßt, mein Bester. Also?«

Ich schüttelte den Kopf und atmete schwer. »Wenn ich nur etwas mehr Bedenkzeit ...«

»Schluß jetzt! Zwing mich nicht zum Äußersten!«

Ich registrierte, wie die entspannte Generation-50-Plus-Maske kurz verrutschte und das erbarmungslose Angesicht der Mißgestalt freilegte, die ich in dieser einen Nacht vor siebzehn Jahren kennenlernen durfte. Meine Gedanken wanderten zu meinem armen Jungen, dessen Bestimmung mit absoluter Sicherheit eine fatale sein würde, wenn ich mich nun verweigerte. Nein und nochmals nein, ich konnte meinen Sohn nicht im Stich lassen! Denn auch die bedingungslose Fürsorge für die eigene Brut gehörte zu der Ordnung, die er von Anbeginn an aufgestellt hatte.

»Gut«, sagte ich schließlich. »Hier hast du meine Entscheidung ...« Ich schaute niedergeschlagener Miene zu ihm auf und bemerkte, daß seine Mundwinkel sich bereits zu einem Triumphlächeln kräuselten.

In diesem Augenblick drang aus dem Kamin ein Geräusch, das klang, als sei das Fegefeuer schon ein gewaltiges Stück nähergerückt. Ein dumpfes Krachen wie bei einer fernen Explosion war zu vernehmen. Die Flammen schlugen meterhoch und züngelten bis vor meine Nase. Das Feuer durchlief im Bruchteil einer Sekunde das komplette Farbspektrum, und für einen Moment wackelte das ganze Wohnzimmer. Dann sprang aus den Flammen Metathron zu mir auf das Schaffell.

Luzifer schoß aus seinem Sessel hoch und ließ dabei das Notebook auf den Boden fallen. Fassungslos betrachtete er den Neuzugang, der ihm mit seinem sandfarbenen Fell, zwischen Zinkgelb und Grün schwankenden Augen und den schnittigen Ohrpinseln an Eleganz in nichts nachstand.

»Wer ... wer bist du denn?« stammelte Luzifer.

»Der Anwalt«, antwortete der Abessinier.